Aus dem System gefallen

Text CLAUDIA STEINER

Foto JOHANNES GRAF

Andras Szikora hat sich viele Jahre von Job zu Job gehangelt. Der aus Ungarn stammende Mann schuftete als Spengler und Isolierer auf Baustellen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in den Niederlanden – immer dort, wo er Arbeit bekam. Weil er immer wieder in anderen Ländern arbeitete, wurde er nicht vom Sozialsystem erfasst. Irgendwann ging seine Firma pleite und er wurde nicht bezahlt. Keine Arbeit keine Wohnung. Ohne Wohnung keine neue Arbeit. Er und seine Frau landeten auf der Straße. „Wir haben viel getrunken. Wodka, Bier, Wein“, sagt er und schüttelt ungläubig den Kopf. Seine Frau starb 2017. Mit ihm ging es immer weiter bergab. „Vor einem Jahr warst du ganz unten“, sagt Oliver Gunia, Pflegedienstleiter in der Arztpraxis der Obdachlosenhilfe St. Bonifaz in München. „Andras war damals körperlich und seelisch in einem dramatischen Zustand.“ Der 48-Jährige, der im frisch gebügelten Hemd im Behandlungszimmer sitzt, nickt. In Deutschland gilt eine Krankenversicherungspflicht. Doch Menschen wie Andras Szikora haben oft keine Krankenversicherung. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass 2019 bundesweit rund 61.000 Menschen nicht krankenversichert waren – die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher sein. Nach Schätzungen des Sozialreferats haben allein in München rund 2.000 Menschen keine Krankenversicherung. Arbeitssuchende EU-Bürger und -Bürgerinnen ohne Anspruch auf Sozialleistungen seien die größte Gruppe, heißt es. Doch auch deutsche Staatsbürger und Menschen aus Drittstaaten – oft mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus – seien betroffen. Auch immer mehr Selbstständige, die zum Beispiel während der Corona-Pandemie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind und ihre private Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnten, stehen oft plötzlich ohne Versicherung da. Zwar müssen Kliniken und Ärzte Kranke in Notfällen behandeln, egal ob mit oder ohne Versicherung. Doch immer wieder werden Patientinnen und Patienten von Praxen abgewiesen oder sie trauen sich erst gar nicht, zu einem Arzt zu gehen – aus Scham oder aus Furcht vor hohen Kosten. „Viele Menschen bekommen Angst, wenn wir ihnen sagen, dass sie ins Krankenhaus müssen“, sagt Gunia. „Sie fürchten, dass sie dann exorbitante Rechnungen bekommen.“ Oft kommen Patienten deshalb erst dann in die Praxis der Obdachlosenhilfe, wenn es gar nicht mehr anders geht. „Es ist wichtig, niedrigschwellige Angebote zu haben“, sagt die Ärztin Corinna Kuhn, die seit gut einem halben Jahr die Praxis von St. Bonifaz leitet. 2022 kamen 855 Patienten, manche Patienten kommen nur einmal, andere mit chronischen Problemen täglich. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr rund 5.400 Kontakte gezählt. Kuhns Patienten haben chronische Krankheiten, schwer heilende Wunden, Erfrierungen im Winter und schwerste Sonnenbrände im Sommer. „Man denkt immer, dass es Obdachlosen im Sommer besser geht, aber auch die Hitze ist für sie schlimm. Oft sind die Menschen dehydriert oder sie haben schwere Sonnenbrände, denn natürlich können sie sich keine Sonnencreme leisten.“ In St. Bonifaz bekommen die Patienten auch Medikamente oder Fahrkarten, um in ein paar Tagen wieder in die Praxis kommen zu können. „Viele Patienten – auch aus dem Münchner Umland – fahren schwarz in die Praxis. Und wenn sie mehrmals erwischt werden und ihre Geldstrafe nicht zahlen können, können sie dafür auch in den Knast gehen“, sagt Gunia. Dies soll geändert werden – möglicherweise ist Schwarzfahren bald nur noch eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat mehr. Gunia: „Diese Änderung ist dringend notwendig. Viele Menschen können sich einfach keinen Fahrschein leisten.“ Wenn die Patienten einen Spezialisten brauchen, schickt Dr. Kuhn die Männer und Frauen auch in andere Praxen wie zu den Maltesern, wo es neben einer allgemeinen Sprechstunde auch einen Zahnarzt, einen Kinderarzt und einen Gynäkologen gibt. „Wir sind in München gut vernetzt“, so die Fachärztin für Allgemeinmedizin. „Willkommen ist uns jeder Mensch“, heißt es auf der Homepage der Malteser Medizin München. Und deshalb müssen Patienten, die nicht nur ohne Versicherung, sondern teils auch ohne gültigen Aufenthaltsstatus sind, in der Praxis keinen Namen nennen. Viele Menschen gehen aus Angst vor Abschiebung nicht zum Arzt. Auch kommen immer wieder Ortskräfte aus Afghanistan, die zwar mit Visum nach Deutschland einreisen konnten, teilweise aber monatelang auf ihre Krankenversicherungskarte warten, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, Menschen aus Vietnam, Bulgarien und Rumänien. Doch die größte Patientengruppe bei den Maltesern hat einen deutschen Pass. „Die Zahl der deutschen Bürger und Bürgerinnen ohne Krankenversicherung wird größer“, sagt Veronika Majaura, Leiterin der Migrationsberatung und der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung. „Die können ihre Krankenversicherung einfach nicht mehr bezahlen.“ 2022 hatte die Praxis der Malteser so viele Patienten wie nie zuvor. Mehr als 1.100 Behandlungen fanden in der Praxis statt. Im Jahr zuvor waren es 25 Prozent weniger. „Die Verzweiflung der Patienten ist oft groß“, sagt Majaura. Erst vor Kurzem kam ein junger Mann in die Sprechstunde des Zahnarztes, der versucht hatte, sich selbst einen Zahn zu ziehen – mit einem Messer und einem Schraubenzieher. Die Ärzte bei Malteser arbeiten ehrenamtlich. Oft sind es Mediziner, die ihre Praxis aufgegeben haben oder bereits in Rente sind, aber auch junge Ärzte, die zwischen zwei Jobs stehen. Patienten können sich nicht nur behandeln, sondern auf Wunsch auch beraten lassen. Sozialarbeiter versuchen zu klären, ob zum Beispiel der Weg zurück in die Versicherung nicht doch möglich ist. Doch die Hürden dafür sind hoch. „Wenn man zum Beispiel ein Jahr lang nicht zahlen konnte, sammelt sich einiges an, und das fällt einem dann auf die Füße, das ist ein Riesenproblem“, sagt Majaura. Auch Corinna Kuhn von St. Bonifaz findet, dass es den Menschen, die aus der Krankenversicherung gefallen sind, nicht leicht gemacht wird. Viele Patienten verstünden die Briefe der Krankenkassen nicht. Oft gebe es sprachliche Barrieren. „Das System hat nicht wirklich Interesse daran, dass die Leute wieder eine Versicherung haben.“ Auch in St. Bonifaz gibt es die Möglichkeit, sich beraten zu lassen. Ein Mitarbeiter der Clearingstelle von Condrobs bietet einmal die Woche Hilfe bei Fragen rund um das Gesundheitssystem an. Andras Szikora geht es inzwischen deutlich besser. Er hat sich zurück ins Leben gekämpft. Vor einem Jahr erfuhr er bei einem Besuch in St. Bonifaz, dass er eine Leberzirrhose hat. Inzwischen trinkt er nicht mehr. Der 48-Jährige wurde operiert, kommt regelmäßig in die Sprechstunde und wohnt in einer Krankenwohnung und nicht mehr auf der Straße. „Inzwischen vermeide ich den Kontakt mit Ex-Freunden von der Straße“, sagt Szikora. „Fast niemand von den alten Freunden hat mich im Krankenhaus besucht.“ Pflegeleiter Gunia ist beeindruckt, dass sein Patient den Willen zeigt, sein Leben zu ändern. „Andras ist ein echter Vorzeigepatient. Er versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen, und hat schon viel geschafft.“ Nun hofft er, dass er bald ein Zimmer, Arbeit und dann auch eine Krankenversicherung hat.

CLEARINGSTELLE FÜR MENSCHEN OHNE KRANKENVERSICHERUNG
Die Landeshauptstadt München hat für Menschen ohne Krankenversicherung einen Gesundheitsfonds über jährlich 500.000 Euro eingerichtet. Zugang zum Gesundheitsfonds haben deutsche Staatsbürger, EU-Bürger und Menschen mit geklärtem und ungeklärtem Aufenthaltsstatus aus Drittstaaten. Voraussetzung ist, dass sich die Betroffenen an die Clearingstelle wenden, die Notwendigkeit der Behandlung medizinisch festgestellt wurde, keine alternativen Finanzierungsmöglichkeiten bestehen und der Lebensmittelpunkt in München liegt.

Clearingstelle Gesundheit
Konradstraße 2, 80801 München
Tel. 089 7167177–90
Fax: 089 7167177–95
E-Mail: clearing.gesundheit@condrobs.de
https://www.condrobs.de/einrichtungen/clearingstelle/

Anlaufstellen für Menschen ohne Krankenversicherung siehe Seite 31.