Hin & Zurück

Mehrere Millionen Deutsche leben im Ausland – dauerhaft oder vorübergehend. Was motiviert Menschen, ihre Heimat zu verlassen? Und wie fühlt es sich an, nach Jahren wiederzukommen? Vier Rückkehrer*innen aus Bali, Bolivien und Afrika erzählen, was sie an der Fremde fasziniert hat und ob sie wieder gern in Deutschland leben.

Protokolle
STEPHANIE STEIDL

EIN BISSCHEN BOLIVIANERIN

SIE KENNT BEIDE WELTEN UND VERMISST DIE ZUFRIEDENHEIT UND LEICHTIGKEIT DER BOLIVIANER.

Charlotte Wagner* ist Wanderin zwischen drei Welten. Die 81-Jährige ist Österreicherin, lebt in Deutschland und kann auf knapp 30 Jahre in Bolivien zurückblicken. 1974 kam sie das erste Mal nach Südamerika, per Schiff, gemeinsam mit ihrem bolivianischen Verlobten. Damals, vor fast 50 Jahren, war das noch etwas Besonderes. Als sie durch den Panamakanal fuhren, faszinierten Charlotte Wagner die Geräusche des Urwalds. Und als sie in Bolivien den ersten Einheimischen mit Poncho sah – exotisch war das. Charlotte Wagners Beziehung zu dem Bolivianer zerbrach. Aber sie blieb trotzdem, suchte sich Arbeit: als Reiseleiterin, in einer Firma für Im- und Export, bei einem Chemie- und Pharmaunternehmen. Schließlich landete sie in der Entwicklungszusammenarbeit. Erst nach fünf Jahren kehrte sie für einen Besuch nach Deutschland zurück. „Da war ich zur Fremden geworden.“ Sie, die inzwischen ein einfacheres Leben gewohnt war, erschrak beim Betreten einer Rolltreppe. Und war überwältigt von der Fülle, die sie umgab. „Wenn ich in Bolivien irgendetwas brauchte, musste ich kreativ sein und habe es mir oft zusammengebastelt.“ In Deutschland ging sie ins nächste Geschäft und kaufte es sich. Ein kleiner Kulturschock. Anspruchslos zu sein, lernte sie vor allem im bolivianischen Tiefland, während ihrer Zeit in einem landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekt. Weder Telefon noch elektrisches Licht gab es in der Unterkunft. Und auch keine Straßenbeleuchtung. „Wenn ich in der Dunkelheit von der Arbeit nach Hause ging, musste ich mit der Taschenlampe den Weg ausleuchten. Sonst wäre ich über die Kühe gestolpert, die überall herumlagen.“

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Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Der Löwe

Protokoll FELICITAS WILKE

Foto MARTIN FENGEL

„Ich bekomme gerade zu spüren, was die gestiegenen Energiepreise bedeuten. In meiner Wohnung habe ich eine Zentralbodenheizung, die nur dann richtig gut funktioniert, wenn man sie hochdreht. Und das ist teuer: Für 2022 steht eine saftige Nachzahlung an, die ich mir nicht leisten kann. Mal sehen, ob mir das Jobcenter helfen kann. In meiner Wohnung zwischen Obersendling und Solln wohne ich seit mittlerweile fast zehn Jahren. Sie liegt im Erdgeschoss eines Neubaus und hat ein Zimmer, eine Küche, ein Bad und eine kleine Terrasse. Als ich hier eingezogen bin, besaß ich keine Möbel, deshalb sind Esstisch, Bett, Kommode und Schränke bunt zusammengewürfelt. Bevor ich in meine jetzige Wohnung gezogen bin, lebte ich lange Zeit in Wohnheimen, zur Untermiete und für einige Jahre auch auf der Straße. Ich habe schon auf Friedhöfen, in Kellerabteilen und offen stehenden Garagen übernachtet. Seitdem finde ich, dass ein Dach über dem Kopf entscheidend ist für ein menschenwürdiges Leben. Ich bin gebürtiger Münchner und habe bis zur zweiten Klasse bei meinen Eltern gelebt. Doch weil ich als Kind misshandelt worden bin und zudem als schwer erziehbar galt, kam ich in die Heckscher Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort erging es mir sehr schlecht. Später besuchte ich die Heimschule im österreichischen Kleinwalsertal, wo ich mich wohler fühlte und meinen Hauptschulabschluss machte. Später machte ich eine Lehre bei der Post und arbeitete als Bahnpostfahrer. Abwärts ging es für mich, als ich ins Bahnpostamt in der Nähe des Hauptbahnhofs versetzt wurde. Dort war Alkoholismus weit verbreitet und ich wurde selbst zum Alkoholiker. Meine Partnerschaft ging in die Brüche, ich verlor meine Arbeit und meine Wohnung. Über einige Umwege kam ich zur BISS und es gelang mir nach vielen Reha-Aufenthalten und Entgiftungen, mich vom Alkohol loszusagen. Heute kann ich mich wieder für die Dinge begeistern, die mir wichtig sind im Leben. Dazu gehört auch meine Liebe zu 1860 München. Wie das große Banner an der Wand und die Decke auf meinem Bett belegen, halte ich es schon immer mit den Löwen. Ins Stadion gehe ich zwar nur noch selten, weil man nur schwer an bezahlbare Tickets kommt. Aber die dritten Programme übertragen ja viele Spiele der dritten Liga! In meiner Wohnung fühle ich mich wohl, auch wenn nach fast zehn Jahren die ersten Dinge kaputtgehen. Der Backofen gibt so langsam den Geist auf, die Waschmaschine auch. Leider war es schon mal einfacher, das Geld für neue Geräte anzusparen: Die Energiepreise steigen immer weiter und meine Miete wurde dreimal in Folge erhöht, zuletzt auf 565 Euro. Inzwischen benötige ich, obwohl ich arbeite, eine Aufstockung vom Jobcenter. Auch in der Nachbarschaft habe ich mich schon mal wohler gefühlt. Die nette jugoslawische Familie von nebenan ist ausgezogen, stattdessen bekomme ich viele Konflikte im Haus mit, bei denen auch Drogen und Alkohol im Spiel sind. Das ist schade, aber wenn ich meine Tür zumache, dann geht es schon. Man müsste mich aus dieser Wohnung schon raustragen, um mich als Mieter loszuwerden.“

Etwas, das mir niemand wegnimmt

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Sanda Boca

Seit ich in Deutschland lebe und bei BISS arbeite, ist mein Lebenswunsch in Erfüllung gegangen, dafür bin ich sowohl den Käuferinnen und Käufern als auch allen Mitarbeitern von BISS sehr dankbar. Vorher kannte ich keine Freude. Als ich als Kind im Heim lebte, kamen Hilfsorganisationen aus Deutschland und brachten uns Geschenke, das heißt Süßigkeiten. Vielleicht brachten sie auch andere Dinge wie beispielsweise Kleidung, jedenfalls bekam ich nur die Süßigkeiten zu Gesicht. Wir Kinder freuten uns nicht über die Geschenke, was daran lag, dass uns die älteren Jungen alles wieder wegnahmen. Oftmals waren diese angestachelt worden von den Lehrern, die ihnen sagten: „Bring mir das, bring mir jenes.“ Nach der 12. Schulklasse hat man mich und die 23 anderen Kinder, mit denen ich aufgewachsen bin, im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße gesetzt. Uns blieb nur noch das, was wir am Leib trugen. Wir lebten auf der Straße, niemand kümmerte sich um uns, niemand half uns. Um uns durchzuschlagen, verdingten wir uns als Erntehelfer und erhielten dafür kein Geld, aber warmes Essen, worüber wir uns aber auch sehr freuten. Das waren ganz kleine Glücksmomente in einem Leben ohne Perspektive. Ein Mann versprach, uns nach Deutschland zu bringen, dort einen Schlafplatz und Arbeit zu besorgen, worauf ich mich einließ. Tatsächlich arbeitete ich in München zwei Monate lang als Reinigungskraft, ich habe Büros sauber gemacht. Allerdings gab es den versprochenen Schlafplatz nicht, ich musste auf der Straße übernachten und zum Essen war ich genötigt, zur Caritas zu gehen. Geld habe ich in dieser Zeit keines gesehen. Da beschloss ich, nicht mehr zu arbeiten, damit mir niemand mehr etwas wegnehmen kann, was mir zusteht. Fortan sammelte ich Flaschen. Über die Caritas habe ich erfahren, dass es eine Straßenzeitung in München gibt und seit 2016 bin ich dort fest angestellt. Ich erlebe dort, dass Geschenke zusätzlich sind, wie Geschenke zu Weihnachten oder zu Ostern, und freue mich ganz besonders, weil sie mir niemand mehr wegnimmt. Ein Geschenk ist auch meine Hündin Kora, die mir viel Freude bereitet und für mich wie ein eigenes Kind ist.

Wer bestimmt?

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Vor einigen Monaten schrieb mir ein Leser zu dem Editorial „Hoffnung auf eine Wohnung“, er könne nicht nachvollziehen, warum darin nur die bayerische CSU im Zusammenhang mit einem Immobiliengeschäft „etwas abfällig“ erwähnt wird, und ob denn SPD und Grüne nichts damit zu tun hätten. Konkret ging es um den Verkauf eines Grundstücks in der Münchner Innenstadt an den Apple-Konzern, das vorher dem Freistaat Bayern gehörte. Über den Verkauf, statt über eine Vergabe im Erbbaurecht, hat die bayerische CSU-Landesregierung entschieden, dieses Mal, man glaubt es kaum, mit der Zustimmung der Landes-SPD. Nun ist es aber so, dass bei den Entscheidungen der Politik in Bayern Grüne und SPD sonst kaum beteiligt sind, denn die Mehrheit liegt nun mal seit Jahrzehnten bei der CSU, die, wie kleine Kinder es gern benennen, die „Bestimmer“ sind, egal ob und mit wem sie in Bayern koalieren. Das müsste doch die Frage des Herrn beantworten, der in seiner Mail bedauerlicherweise noch schrieb, dass er und sein Freundeskreis den Kauf der Zeitschrift aus Verärgerung für einige Zeit eingestellt hätten. Bezahlbarer Wohnraum vor allem in Großstädten ist Mangelware und deshalb kommen immer mehr Menschen in existenzielle Nöte. Das hat seine Ursachen nicht nur, aber eben auch in den Entscheidungen von Politikerinnen und Politikern auf Bundes- und Landesebene. Die kann man nicht nur, sondern muss sie kritisieren, sachliche Argumente dafür gibt es. In Bayern wird am 6. Oktober 2023 gewählt, das ist ein guter Grund, bei den Parteien und den Personen, die für den Landtag kandidieren, genau hinzuschauen und nachzufragen: Mit welchen Themen treten sie an? Haben sie eine Vorstellung davon, wie die Menschen in Bayern leben, auf dem Land und in den Großstädten? Zeigen sie Verständnis dafür, dass es vielfältige Lebensweisen gibt, die, wenn sie anderen nicht schaden, Platz brauchen? Haben sie gute und umsetzbare Ideen, altbekannte Probleme zu lösen? Wie sprechen Politiker über Kollegen aus anderen Parteien, persönlich abwertend oder nicht? Unsere Demokratie lebt doch von Gesprächen und kontroversen Diskussionen, auch wenn es einem manchmal zu viele sind. Manche sagen, es sei ein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn unterschiedliche Positionen öffentlich bestehen und diskutiert werden, denn das würde bedeuten, dass es eben keine(n) Bestimmer mehr gibt, die für alle festlegen können, was gilt. Ich würde mich freuen, wenn der Leser, der uns den Brief geschrieben hat, wie Herr K. handeln würde, ein langjähriger Förderer und treuer BISS-Leser. Herr K. geht, wenn er die BISS gekauft hat, mit dem Exemplar in der Hand zu vorbeigehenden Passanten und sagt: „Ich habe gerade die BISS gekauft, kaufen Sie doch auch eine!“


Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin