Thema | Goldenes Handwerk | Ein Studium aufzugeben ist kein Beinbruch, ganz im Gegenteil: Die Berufschancen sind prächtig, das Einkommen gut | 6Meister statt Master: Zuerst studiert, dann eine Lehre gemacht | 12 Telefonseelsorge: Manchmal hilft schon ein offenes Ohr | 16 Laufen gegenDepressionen: In der Gruppe geht es leichter |20 Bezahlung in Behindertenwerkstätten: Taschengeld oder Mindestlohn? | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 25 Patenuhren | 28 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-NetzwerkEinblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Die Ballerina
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Foto MARTIN FENGEL
Betritt man meine Wohnung, steht man gleich in der Küche, zu der auch ein Tisch und zwei Stühle gehören. Oft sitzt dort der ein oder andere Nachbar oder Freund. Zu allen Bewohnern der Anlage habe ich ein gutes Verhältnis. Wir schauen nacheinander, unterstützen uns gegenseitig, holen dem anderen mal die Zeitung. Ich versuche den Leuten immer freundlich, offen und ehrlich zu begegnen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, ist meine Überzeugung. In meinem 1-Zimmer-Appartement lebe ich seit 20 Jahren, das ist fast so lange, wie es unsere Wohnanlage in Ramersdorf gibt. An der Wand im Flur hängt ein Paar Ballettschuhe, die mich an die 20 Jahre, die ich getanzt habe, erinnern. Mit viereinhalb Jahren habe ich damit begonnen. Damals lebte ich in New York. Zuvor war ich etwa ein Jahr mit meinen Eltern auf Amrum gewesen. An diese Zeit erinnere ich mich aber nicht mehr. Als ich 18 war, zogen meine Eltern mit mir und meiner Schwester nach Pforzheim. Diese Kleinstadt mitten im Schwarzwald war das Gegenteil von den USA, wo alles riesig, modern und etwas verrückt war. Mir fehlte der Trubel, die Hektik, das Leben. Mein chinesisches Sternzeichen ist der Hahn, das bedeutet, ich stehe gern im Mittelpunkt und habe viel Energie. Bald zog ich wieder aus und ging kurze Zeit später zurück in die Staaten, um an der Theaterakademie zu studieren. Ich genoss es, allein zu leben, unabhängig und selbstständig zu sein. Irgendwann einmal entschied ich mich jedoch, das Tanzen an den Nagel zu hängen, da man damit kein Geld verdienen konnte. Im Urlaub lernte ich meinen Mann kennen und aus drei Tagen München wurde schließlich eine Ehe. Was das Wohnen angeht, hat mein Mann einen anderen Stil als ich. Würde es nur nach mir gehen, hätten wir viel weniger Sachen. Zum Beispiel hängen in unserem Wohn- und Schlafzimmer etliche Bilder: moderne Kunst, Fotografien, Stadtansichten – viel zu viele. Ich mag es gern übersichtlich und ordentlich. Vielleicht weil ich als junger Mensch sehr viel umgezogen bin, kann ich mir nicht vorstellen, auf Dauer hier in diesem Appartement zu bleiben. Von meinen Eltern bin ich gehobenere Viertel gewohnt. Ich mag es gern innerstädtischer, vor allem die Altbauwohnungen mit ihren Stuckdecken haben es mir angetan. Allerdings gehört unsere Anlage zum Sozialen Wohnungsbau, wir zahlen für unser Appartement 386 Euro plus Nebenkosten. Würde ich wegziehen, müsste ich ein Vielfaches davon aufbringen. Ich wäre blöd, wenn ich das machen würde. Angesichts dessen, dass manche BISS-Verkäufer gar keine Wohnung haben, bin ich letztendlich zufrieden. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, trinke ich gern mal einen Tee, relaxe, schaue nach den Nachbarn, putze Zähne und schon falle ich ins Bett. In den Momenten, in denen ich meine Ruhe brauche, lese ich etwas, schaue fern oder höre leise, ruhige Musik. Aber diese Augenblicke sind selten. Ich finde, das Wichtigste ist, dass man agil bleibt.
Ein Gespräch mit Oswald Utz, dem ehrenamtlichenBehindertenbeauftragten der Stadt München, über neoliberale Strukturen, Unternehmensvorteile und Parallelwelten.
INTERVIEW Von STEPHANIE STEIDL
Foto: privat
Reformieren oder abschaffen – in welche Richtung sollten sich die Werkstätten Ihrer Meinung nach entwickeln? Das Thema ist komplex, aber die eigentlich spannende Frage lautet: Passen neoliberaler Arbeitsmarkt und Menschen mit Behinderungen überhaupt zusammen? Denn in unserem System scheitern immer mehr Menschen und werden aussortiert – nicht nur solche mit Behinderungen, sondern auch Ältere, Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss oder mit längeren Familienzeiten. Auch ich würde die Werkstätten gern abschaffen. Aber wohin dann mit diesen Menschen? Seien wir ehrlich: Auf dem Arbeitsmarkt, wie er aktuell beschaffen ist, haben viele von ihnen keine Chance.
Also bleibt vorerst nur eine Reform. Das System der Werkstätten ist extrem verlogen. Eigentlich sollte es fit machen für den ersten Arbeitsmarkt. Aber das passiert so gut wie gar nicht.
Verhindern Werkstätten in ihrer jetzigen Struktur die Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt? Unternehmen müssen eine Ausgleichsabgabe zahlen, wenn sie nicht genügend Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Aber wenn sie Leistungen in einer Werkstatt einkaufen, können sie die Ausgleichsabgabe gegenrechnen. Und sie erhalten weitere Vergünstigungen wie zum Beispiel einen reduzierten Mehrwertsteuersatz. Warum also sollte ein Unternehmen Menschen mit Behinderungen einstellen, wenn es über den Weg Werkstatt viel einfacher und günstiger geht? Und warum sollte die Werkstatt ihre Beschäftigten weitervermitteln, wenn sie innerhalb ihrer eigenen Struktur viel mehr von ihnen profitiert? Also ja, die Teilhabe wird durch dieses System erschwert.
Warum wird von politischer Seite so wenig Druck ausgeübt? Manchmal kommt mir das vor wie eine stillschweigende Übereinkunft: Die Werkstätten werden üppig gefördert und als Gegenleistung schaffen sie eine Parallelwelt für Menschen mit Behinderungen. Dort sind diese dann versorgt und aufgeräumt und fallen der Öffentlichkeit und den Behörden nicht weiter zur Last.
Können Sie Werkstätten auch etwas Positives abgewinnen? Selbstverständlich. Es gibt Menschen, die sich dort sehr aufgehoben fühlen: weil kein Druck ausgeübt wird, weil sie ihren Therapien nachgehen können, weil sie dort ihr soziales Umfeld haben. Für sie ist der Schutzraum Werkstatt gut und passend. Das darf man ihnen auch nicht wegnehmen, das wäre geradezu fahrlässig. Perspektivisch müsste es aber darum gehen, dass keine neuen Beschäftigten in die Werkstätten nachrücken, sondern Alternativen für eine echte Teilhabe gefunden werden.
Neulich musste ich – bekanntlich ein Mann – zur Mammographie. Über meiner linken Brustwarze hatte ich nämlich durch Zufall einen Knoten festgestellt. Ich machte mich also auf in eine Arztpraxis, die sich auf diese Art von Untersuchung spezialisiert hatte, allerdings in der Regel nur bei Frauen. Ich sollte einen Zettel mit mehreren Fragen beantworten, die mir bislang eher selten gestellt wurden, darunter: „Könnten Sie schwanger sein?“ Ich schaute an mir runter, sah meine Leibesfülle und dachte: „Könnte sein, mal fühlen …“, und streichelte über meinen Bauch. Da ich keine Bewegung spürte, kreuzte ich „Nein“ an. Dann ging es zur eigentlichen Untersuchung. Man führte mich zu einer Apparatur, die wie eine Presse aussah. Die Arzthelferin sagte zu mir, ich solle meine linke Brust auf den unteren Teil der – ich nenne es mal – „Brustquetsche“ legen. Wenn man wie ich als Mann nur ein „BMW“ hat, also ein „Brett mit Warzen“, dann ist das gar nicht so einfach. Es kam dann eine weitere Helferin dazu, um der ersten beim Einquetschen meiner Brust zu helfen. Irgendwann war die ganze Prozedur endlich vorbei. Nun nahm sich der Arzt meiner an – und hatte zum Glück positive Nachrichten: Nach einer Ultraschalluntersuchung stellte er fest, dass der Knoten harmlos war und nicht operativ entfernt werden musste. Nun also weiß ich, als Mann, aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, zur Mammographie zu müssen.