Thema | Nachhaltig handeln | Es gibt viele Bereiche, in denen man sich für eine bessere Zukunft engagieren kann. | 6Kurzzeitpflege: Was gegen den Mangel an Kurzzeitpflegeplätzen getan werden müsste | 10 40 Jahre Aids: Wie lebt es sich mit dem Virus? | 14 KulturRaum: Ein Verein ermöglicht Menschen mit wenig Geld die Teilhabe am kulturellen Leben | 18 Nachhaltiggrün: Von der Idee zur Bepflanzung der Fahrradschlauchtöpfe von Pulpo | | 5 Wie ich wohne | 24 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 26 Patenuhren | 27 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer und Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Protokoll ANNELIESE WELTHER
Der Naturliebhaber
Foto: Martin Fengel
Ich liebe es, mich an den kleinen, feinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Dazu gehört mein Balkon, wo ich stets nur kurz, aber oft sitze. Bei schönem Wetter habe ich den ganzen Tag Sonne. Auf den Boden habe ich mir ein paar Blumenkästen und -töpfe gestellt, denn ich finde: Pflanzen machen die Seele frei. Die Liebe zur Natur habe ich von meiner Oma, die in meinem Geburtsland Iran einen Obstgarten und viele Blumen besaß. Von der Arbeit habe ich es nicht weit nach Hause. Im Erdgeschoss ist der Fahrradladen, in dem ich angestellt bin, und darüber, im fünften Stock, befindet sich meine Zweizimmerwohnung. Das ganze Viertel ist fünf oder sechs Jahre alt. Es wohnen viele Familien hier. Zuvor habe ich am Ostbahnhof in einer kleinen Wohnung gewohnt und arbeitete auch dort in einem Fahrradladen. Durch einen tragischen Umstand kam ich vor etwa zwei Jahren zu meiner jetzigen Bleibe. Ein anderer Mitarbeiter verstarb, und es wurde jemand für diese Filiale gesucht. Ich sprang ein und übernahm auch sein Appartement. Für 40 Quadratmeter zahle ich nun inklusive Strom 600 Euro Miete. Die Küche mit den roten Schränken und den bunten Wandfliesen war schon eingebaut, als ich einzog. Meinen Kaffeeautomaten habe ich geschenkt bekommen. Morgens trinke ich eine Tasse Kaffee und nachmittags Tee. Bei meiner Oma im Iran lief der Samowar von morgens sechs Uhr durchgehend bis abends. Immer kam jemand und wollte Tee. Dort trank man für gewöhnlich schwarzen Tee, währenddessen ich mittlerweile grünen bevorzuge, der Gesundheit wegen, auch wenn ich mich an den Geschmack erst gewöhnen musste. Auf dem Fußboden liegen natürlich Teppiche. Ein Perser ohne Teppich ist kein Perser. Meine sehen so ähnlich aus wie diejenigen, die meine Großmutter gemacht hat. Kenner können übrigens anhand des Musters sagen, aus welcher Gegend ein Teppich kommt. Meine Oma hat im Norden des Irans gewohnt, wo es im Winter richtig kalt werden konnte, kälter als in Deutschland. Die Zeit, die man drinnen verbringen musste, nutzte man zum Teppichknüpfen. In dem Ort, wo ich als Kind mit meiner Familie gelebt habe, einer kleinen Industriestadt, gab es insgesamt zwei oder drei Fahrräder, und eines davon gehörte uns, das heißt, wir fünf Geschwister mussten uns eins teilen. Es war ein Luxusgegenstand. Wer hätte damals gedacht, dass ich später einmal den Beruf des Zweiradmechanikers erlernen würde. Ein Auto besitze ich schon lange nicht mehr. Bei extrem schlechtem Wetter nehme ich die U-Bahn oder den Bus, ansonsten bin ich immer mit dem Rad unterwegs. Nicht weit von mir liegt der Englische Garten, wohin ich oft fahre, um Ruhe zu finden und um Freunde zu treffen. Auf dem Weg komme ich an Ateliers vorbei. Früher war an der gleichen Stelle eine Kaserne, dann eine Diskothek und jetzt arbeiten Künstler dort. Diese Leute sind ein bisschen anders, aber sehr angenehm und fahren alle Rad. Viele von ihnen sind meine Kunden. Überhaupt boomt das Fahrradgeschäft seit Corona. Wäre ich jünger und hätte ich mehr Kapital, würde ich mich selbstständig machen.
Seit 2013 bekommen alte Fahrradschläuche, die bei Dynamo Fahrradservice Biss e.V. anfallen, durch „Pulpo – abgefahren in München“ ein neues Leben. Bei Dynamo werden die Schläuche gewaschen und gereinigt. Dann werden sie nach Vorlagen der Künstlerin Naomi Lawrence in der Nähwerkstatt des Netzwerks Geburt und Familie e.V. zu Schlüsselanhängern, Satteltaschen, Handyhüllen und Geldbörsen weiterverarbeitet und online sowie in verschiedenen Münchner Geschäften verkauft. Durch das Upcycling der Fahrradschläuche wird nicht nur Müll vermieden, sondern es entstehen auch Arbeitsplätze für sozial benachteiligte Menschen. Vor zwei Jahren begannen wir, das Produkte-Angebot von Pulpo weiterzuentwickeln. Aus den Fahrradschläuchen sollten nicht nur Gebrauchsgegenstände gefertigt werden, sondern auch Gefäße entstehen, die München grüner machen: im Großen vor öffentlichen Gebäuden genauso wie im Kleinen in Hinterhöfen oder auf Balkonen. Monatelang haben wir Gedanken gedreht und gewendet wie der optimale Fahrradschlauch-Blumentopf aussehen könnte und welche Eigenschaften er erfüllen müsste. Ein Dummy wurde genäht, bepflanzt und auf einem Südbalkon einem Härtetest unterzogen. Schon bald stellte sich heraus, dass das Material gut geeignet ist.
Anlässlich der Kommunalwahl im Frühjahr 2020 erhielt ich zum ersten Mal, seit ich in Deutschland lebe, eine schriftliche Benachrichtigung, mit der ich wählen gehen durfte. Wegen der damals beginnenden Corona-Pandemie gab ich per Brief meine Stimme ab. Also habe ich anschließend die richtige Person gewählt und auf die Weise eine tolle Reise gewonnen! Nein, das war selbstverständlich nur Spaß. Die Wahl war natürlich geheim und ich konnte mein Kreuzchen machen, wo immer ich es wollte. Aber was stimmt, ist, dass ich eine Reise gewonnen habe. Es gab eine von BISS organisierte Lotterie, bei der alle Verkäufer, die zur Wahl gegangen sind, teilnehmen konnten. Ich war überglücklich, gewonnen zu haben. Seit fünf Jahren war ich nicht mehr im Urlaub gewesen. Außerdem war ich ganz ungeduldig, da ich nicht wusste, was mich erwartet, denn erst drei Tage vor Beginn zeigte man mir, wohin meine Reise gehen sollte. Die Bilder gefielen mir schon super: eine schöne Landschaft mit Bergen, ein schmuckes Hotel, einfach herrlich. Dann war es so weit: Es ging endlich los. Meine Freundin Sanda begleitete mich und wir fuhren mit dem Zug bis Füssen. Am Bahnhof angekommen, standen wir ratlos herum und wussten erst einmal nicht weiter. Aber das Glück war mit uns und wir fanden einen Busfahrer, der wie wir aus Rumänien kam. Er nahm uns mit und ließ uns ganz in der Nähe des Hotels raus. Nachdem wir eingecheckt hatten, hielt es uns jedoch nicht mehr lange drinnen: Wir zogen gleich weiter durch die Gassen, um alles zu erkunden. Zuerst haben wir uns die Stadt angesehen, danach nahmen wir den Bus und fuhren in Richtung der Königsschlösser. Eine Pferdekutsche brachte uns zum Schloss Hohenschwangau. Dieses sahen wir uns von außen und innen an. Ich war restlos begeistert wie auch von dem anliegenden See. Alles gefiel mir ausgesprochen gut. Es gab dort auch einen Springbrunnen mit einem eisernen Vogel. Alle Leute streichelten dem Vogel über den Kopf, er war an dieser Stelle schon ganz blank gescheuert. Das zu tun schien wohl Glück zu bringen, also strich ich ihm auch über die glänzende Stelle. Wieder mit der Pferdekutsche gelangten wir auch zum weiter oben gelegenen Schloss Neuschwanstein. Leider durften wegen Corona täglich nur zwanzig Personen das Schloss besichtigen und mussten sich zudem im Vorfeld online anmelden. Wir hatten das nicht gewusst und so haben wir es nur von außen betrachtet. In Füssen unternahmen wir auf dem See eine Bootsfahrt und genossen die drei Tage, die wir dort sein durften. Es war eine wunderschöne Reise. Die Fotos, die ich währenddessen gemacht habe, trage ich in meinem Smartphone immer mit mir herum. Nur allzu gern würde ich noch einmal dorthin fahren.
Eigentlich kann ich mir so gar nicht vorstellen, wie eine digitale Version des BISS-Verkaufs aussehen könnte. Sollte man dafür unser Magazin bestellen können, es dann als sogenanntes E-Paper übermittelt bekommen, um es anschließend am Bildschirm zu lesen? Aber wo blieben dann unsere über 100 Verkäuferinnen und Verkäufer, davon 55 fest angestellte? Oder könnte man diese für zu Hause mit Notebooks und Headsets ausstatten, damit ihre Kunden online, beispielsweise vom Homeoffice aus, in einem Zoom-Meeting das Magazin direkt ordern können? Oder wäre es sogar denkbar, dass die BISSler mit E-Bikes und Rucksäcken durch die Stadt flitzen und online bestellte Exemplare ausliefern? Klingt alles eher absurd und kann so gar nicht überzeugen. Vor allem geht es bei BISS ja um die vielen persönlichen Begegnungen, die arme und (ehemals) obdachlose Menschen wieder an die Gesellschaft heranführen. Durch jedes verkaufte Exemplar entsteht doch viel mehr als der Erlös für den Verkäufer: ein freundliches Lächeln, ein gut gelaunter Gruß und eben ganz oft ein von wohlwollendem Interesse geprägtes Gespräch. Von diesem Kontakt haben beide etwas, denn auch die Kunden können sich darüber freuen, dass sie für einen anderen Menschen Gutes tun. Manche dieser Begegnungen entwickeln sich ganz anders als erwartet, wie wir von Herrn S. aus dem Rheinland per E-Mail erfahren haben: „Am 4.1.2022 wurde ich gegen 9.00 Uhr (…) von einem Verkäufer Ihres Magazins angesprochen. Der Herr war sehr freundlich. Umso bedauerlicher war, dass ich ihm nur 2 Euro geben konnte. Er war so nett, dass er mich nicht ohne ein Exemplar des Magazins gehen ließ, obwohl ich das in diesem Moment gar nicht vollständig bezahlen konnte. Gerne möchte ich dem Herrn, dessen Verkäufernummer ich nicht behalten habe, nochmals meinen ausdrücklichen Dank und meine besten Wünsche für die Zukunft ausrichten. Bitte geben Sie meine Grüße weiter (…).“ Das haben wir natürlich gern getan, nachdem wir unseren Verkäufer ausfindig gemacht hatten. Es sind doch diese lebendigen Begegnungen, auf die es ankommt! Auch wenn es im Moment in der Münchner Innenstadt noch nicht so zugeht wie in früheren Zeiten, wird sich das auch wieder ändern. Die Menschen werden froh sein, wieder öfter mit einem guten Gefühl außer Haus gehen zu können. Wir BISSler sind schon da und freuen uns auf die, die kommen.