Jahreskonferenz der internationalen Straßenzeitungen in Glasgow

GlasgowText: Karin Lohr
Dieses Jahr kamen die Delegierten der weltweit im INSP (International Network of Streetpapers) organisierten Straßenzeitungen nach Glasgow in Schottland. Das Treffen dauerte insgesamt drei Tage, und es gab an jedem Tag einen anderen Themenschwerpunkt für das Forum und die kleineren Gruppenveranstaltungen. Obwohl sich die einzelnen Straßenzeitungen in ihrer Heimat in ganz unterschiedlichen Geschäftsmodellen organisieren, müssen sie vergleichbare Herausforderungen bewältigen: Wie soll man mit der Digitalisierung umgehen, wie lässt sich die Auflagenhöhe stabil halten, und wie kann man die Lage der Verkäufer nachhaltig verbessern, um nur ein paar wenige zu nennen. Aufgrund der aktuellen politischen Entwicklung mit Kriegen, Hunger und Vertreibung in vielen Ländern müssen Menschen aus ihrer Heimat fliehen und tauchen auch bei den Straßenzeitungen auf: Afrikaner in Italien, Roma in ganz Westeuropa und Lateinamerikaner in den USA. Straßenzeitungen bieten die Chance auf ein kleines Einkommen, und im besten Fall
vermitteln sie die Menschen in einen Sprachkurs oder an andere Hilfsangebote, sofern sie in dem jeweiligen Land existieren. BISS ist die einzige Straßenzeitung auf der ganzen Welt, die 42 ihrer Verkäufer fest angestellt hat und weitere Arbeitsplätze mit Festanstellung bietet. Das ist einmalig, und wir stellen bei den INSP-Treffen immer unser Anstellungsmodell vor und ermutigen und unterstützen andere Straßenzeitungen, es nachzumachen. Trotz der ernsten Themen war die Stimmung bestens. Die Leute, die für Straßenzeitungen arbeiten, haben nicht resigniert und sind davon überzeugt, dass sie eine sinnvolle Arbeit leisten. Der letzte Abend ist traditionell eine festliche Veranstaltung, bei der viel miteinander geredet, gelacht und getanzt wird. Dieses Jahr standen „Ceilidh dance“, also temperamentvolle schottische Tänze auf dem Programm. Nächstes Jahr findet das Treffen in Seattle in den USA statt. Tim Harris, der Executive Director der dortigen Straßenzeitung „Real Change“, berichtete, dass in Seattle aktuell in einer Nacht mehr als 9.000 obdachlose Menschen gezählt wurden, 3.000 davon auf der Straße. Die Straßenzeitungen bleiben dran und hoffentlich auch diejenigen, die sie vor Ort unterstützen und fördern.

„Der Fotograf ist der stumme Zeuge im Krieg“

Michael Kamber arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Fotojournalist. Sein Buch beinhaltet
unveröffentlichte Fotos aus dem Irak-Krieg und Interviews mit den Fotografen

KriegsreporterHerr Kamber, Ihr Buch zeigt nie zuvor veröffentlichte Bilder aus dem Irak-Krieg, vor allem aber enthält es auch Interviews mit 39 Fotografen. Viele von ihnen beschreiben grauenvolle Situationen. Wie kamen Sie dazu, dieses Buch zu schreiben?
Ich habe im Irak viel Zeit mit anderen Kriegsfotografen verbracht. Sie erzählten immer außergewöhnliche Geschichten. Irgendwann realisierte ich, dass hier etwas war, das veröffentlicht werden sollte, deshalb zog ich ein Aufnahmegerät heraus und fing an, sie aufzunehmen. Außerdem war ich sehr frustriert über die Zensur – einerseits vom US-Militär, auf der anderen Seite aber auch von der Presse selbst. Viele Zeitungen weigerten sich, Fotos zu veröffentlichen, die die amerikanische Bevölkerung erschüttern könnten. Ich hatte ständig das Gefühl, dass der echte Krieg nicht gezeigt wird. Aber die Menschen müssen wissen, was dort drüben vor sich ging. Viele von uns Fotografen sind beeinflusst vom Vietnam- Krieg, als Fotojournalisten stehen wir in dieser Tradition. Wir wollten darum den Irak-Krieg dokumentieren und so einen
Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten. Darum bin ich auch in den Irak gegangen, ich hatte 2003 und 2004 einige schreckliche Erfahrungen, dennoch bin ich freiwillig wieder zurück – nicht weil ich heldenhaft bin, das bin ich nicht. Ich hatte ganz einfach nur eine Kamera, mit der ich Geschichte aufzeichnen konnte.
Das ist eine Chance – und ein Privileg. Wie lief die Berichterstattung?
Am Anfang gab es nur wenige Beschränkungen, aber dann wurden sie im Verlauf des Krieges immer restriktiver, und am Ende des Krieges war es sehr schwierig, überhaupt zu arbeiten. Da wurde der Zutritt zu Krankenhäusern verweigert, man durfte nicht mit Gefangenen sprechen oder verwundeten Amerikanern.
Mehrere Fotojournalisten, mit denen Sie sprachen, wurden mit dem Tode bedroht. Sie und Ihre Kollegen arbeiteten
unter hohem persönlichem Risiko.

Dies waren schreckliche, schreckliche Tage – Tage, an denen man morgens aufwachte und sich fragen musste: „Ist es wert, für eine Reportage getötet zu werden?“ Im Frühjahr und Sommer 2003 war viel Presse im Irak, aber im September waren viele schon wieder abgezogen. Man hatte als Fotograf eine Stadt oder eine ganze Provinz für sich allein. Das war eine große Verantwortung – andererseits auch das, von dem ich immer geträumt hatte: Ich konnte Geschichte dokumentieren.
Ihr Buch befasst sich auch mit der Inkompetenz und Arroganz der US-Politik in Bezug auf den Irak.
Im Rückblick schäme ich mich ein bisschen, aber ich muss ehrlich sein: Ich war ein großer Unterstützer der Invasion. Ich dachte, wir könnten Saddam stürzen und Demokratie einführen. Das war ein großer Irrtum. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass selbst auf höchster Ebene im US-Militär ein Maß an Inkompetenz herrschte, das einem den Atem stocken ließ. Soldaten waren im Einsatz ohne genug Nahrung, ohne ausreichend Unterstützung, mit Ausrüstung, die sie nicht schützte. Die US-Armee rückte in ein Land mit 30 Millionen Einwohnern ein, mit minimaler Gruppenstärke und ohne die benötigten Übersetzer. Vor allem aber hatten wir keinen Plan, was nach dem Kriegsende passieren soll. Das ist einfach verrückt.