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BISS-Ausgabe Januar 2024 | Schritte

Inhalt | Schritt für Schritt | Um ein großes Ziel zu erreichen, braucht es viele kleine Schritte. Und manchmal auch Unterstützung. | 6 FahrRad R18: Mit dem Rad zurück ins Leben | 12 Führungen in Leichter Sprache | 16 Wohin mit den Boomern? Barrierefreie Wohnungen sind Mangelware | 20 Stiftung BISS: Ein erfolgreiches Jahr liegt hinter uns | 24 Eine Patenuhr für … Unsere fest angestellten BISS-Verkäuferinnen und – Verkäufer suchen Paten für 2024 | 5 Wie ich wohne | 24 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 26 Patenuhren | 27 Freunde und Gönner | 30 Impressum, Kooperationspartner | 31 Adressen

Wohin mit den Boomern?

Von
SONJA DAWSON UND
LEON SCHEFFOLD

Altbau ohne Aufzug, schmale Bäder, Stufen am Eingang – für eine alternde Stadtgesellschaft wird der Mangel an barrierefreien Wohnungen zum Problem.

Nicht nur in der Borstei können ein paar Treppen im Eingangsbereich zu einer unüberwindlichen Hürde für Menschen werden, die schlecht zu Fuß sind. (Foto: LEON SCHEFFOLD)

Gerda Müller ist 82 Jahre alt. Sie wohnt im zweiten Stock eines Wohnhauses der Borstei. In dieser traditionsreichen Wohnsiedlung im Münchner Westen leben in mehr als 700 Wohnungen Familien, Studenten und Rentner generationsübergreifend zusammen. Die Siedlung wurde in den 1920er Jahren erbaut und ist denkmalgeschützt. Und da man vor 100 Jahren noch selten Aufzüge einbaute, befinden sich auch in der Borstei keine – und das wird sich aller Voraussicht nach auch nicht ändern, denn der Denkmalschutz erlaubt keinerlei Umbauten im Treppenhaus. Der Gründer der Borstei, Bernhard Borst, verfolgte den Grundgedanken, die Hausfrau zu entlasten und die Gesundheit der Bewohner zu fördern. Er investierte in hochwertige Bauweisen und zentrale Dienstleistungen, die das soziale Miteinander in der Borstei stärkten. Da jetzt viele ihrer Bewohner*innen älter werden und nicht mehr mobil sind, wird für sie ein Leben in der Borstei zunehmend schwieriger. Frau Müller hatte vor drei Jahren einen unglücklichen Unfall, bei dem sie sich das Sprunggelenk brach. Plötzlich nahm sie wahr, welche Einschränkungen sich ergeben, wenn ein Wohnhaus nicht barrierefrei ist: Sie war wochenlang in ihrer Wohnung gefangen, die steilen Stufen des Treppenhauses stellten mit gebrochenem Bein ein unüberwindbares Hindernis dar. So wie es ihr nach ihrem Beinbruch erging, geht es in Deutschland unzähligen Menschen. Und durch den demografischen Wandel werden es wohl noch mehr.

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Wie ich wohne

Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.

Die Sonntagsköchin

Protokoll ANNELIESE WELTHER

Foto MARTIN FENGEL

„Blitzeblank ist es in unserem Dreigenerationenhaushalt, wir lieben es sauber und ordentlich. Selbst mein dreijähriger Enkel räumt nach dem Spielen seine zahlreichen Kuscheltiere und Autos allein wieder ins Regal. Vor allem hält aber meine Tochter alles im Reinen, da ich unter der Woche von morgens bis abends beim Verkaufen bin. Nur sonntags arbeite ich nicht. Dann koche ich für die beiden, gehe mit dem Kleinen auf den Spielplatz, erhole mich, um am Montag wieder fit zu sein. Mit den Männern hatten meine Tochter und ich Pech, darum sind wir nur zu dritt. Mein Enkel liebt es, im Kinderzimmer zu spielen. Nachts teilt er sich im Schlafzimmer ein großes Doppelbett mit meiner Tochter. Auch ich übernachte manchmal dort, allerdings wacht der Kleine oft auf, darum bevorzuge ich das Sofa im Wohnzimmer. Bevor wir hierhergezogen sind, haben wir mit meiner Schwester und deren Familie gewohnt, insgesamt waren wir sechs Personen. Das war mir zu viel Trubel, darum bin ich froh, dass meine Tochter diese Wohnung gefunden hat. Wir haben sie gemeinsam eingerichtet in den Farben Weiß, Beige, Hellbraun und Schwarz mit ein paar goldenen und silbernen Elementen. Auch haben wir viele Blumenmotive, mal gedruckt auf den Vorhängen oder als Bild an der Wand, mal als Stoffblumen in Vasen. An den Wänden hängen viele Fotos von meinem Enkel, aber auch von anderen Familienmitgliedern. Für die 75 Quadratmeter große Wohnung zahlen wir 1.900 Euro warm. 500 Euro steuere ich hinzu, außerdem kaufe ich ein. In meiner Heimat Rumänien wuchs ich in einem kleinen Haus auf, das mein Vater selbst gebaut hatte. Wir vier Geschwister schliefen in einem Zimmer, meine Eltern in einem anderen, außerdem gab es noch einen weiteren Raum. Wir hatten nicht viel, aber wir waren zufrieden. Alle kamen wir gut miteinander aus. Dann starb mein Vater mit nur 47 Jahren an einem Herzinfarkt. Bis dahin war er derjenige gewesen, der das Geld verdient hatte. Meine Mutter fand keinen Job und sah sich gezwungen, das Haus zu verkaufen. Wir alle fünf gingen nach Belgien, wo wir in der Küche eines Restaurants arbeiteten. Meine Mutter, meine Geschwister und ich teilten uns hier zwei Zimmer in einem Wohnheim. Leider erkrankte meine Mutter an Gebärmutterkrebs und starb sechs Monate nach Erhalt der Diagnose. Ich lernte einen Mann aus Frankfurt kennen und zog zu ihm. Nach einiger Zeit begann er mich zu betrügen und zu schlagen, woraufhin ich mich von ihm trennte und mit meiner Tochter in eine Zweizimmerwohnung einzog. Das Bad und die Küche teilten wir uns mit anderen Bewohnern; kochten sie, zogen unangenehme Gerüche zu uns rein. In Frankfurt war es kaum möglich, eine Arbeit zu finden. Von Bekannten hörten wir, dass es in München besser sei. Deshalb kamen wir hierher, aber so leicht war es dann auch nicht. Ich putzte hier und da, fand jedoch keine Festanstellung. Da hörte ich von BISS und bin seit drei Jahren Verkäuferin, etwa so lange, wie wir in dieser Wohnung leben. Seitdem ist alles gut.“

Da geht was

Karin Lohr, Foto: Volker Derlath

Kennen Sie auch jemanden, der ständig pleite zu sein scheint? Nicht immer gibt es eine plausible Erklärung dafür, vor allem wenn die betreffende Person ein ordentliches und regelmäßiges Einkommen hat, mit dem sie eigentlich gut über die Runden kommen müsste. Häufiger als man denkt, steckt eine Sucht dahinter. Aber keine nach Alkohol oder Drogen, sondern nach dem Glücksspiel. Diese Sucht sieht und riecht man nicht, das Glücksspiel findet abgeschottet unter Gleichgesinnten in den Wettbüros und Spielhallen und zunehmend online im Internet statt. Ist jemand glücksspielsüchtig, merken das häufig selbst Familie und enge Freunde erst sehr spät. Die rückständige Miete oder die Mahnung des Energieversorgers ist im schlimmsten Fall die Spitze eines Eisbergs mit Schulden in sechsstelliger Höhe. Bei der jüngsten Jahrestagung des Fachverbands Glücksspielsucht kamen wieder engagierte Leute aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammen. Dieses Mal erfuhr man Genaueres über die enorme Resonanz auf OASIS, das bundesweite Spielersperrsystem, mit dem sich Glücksspielsüchtige selbst sperren lassen und so besser schützen können. Ebenfalls spannend war die Diskussion über die massive Werbung für Sportwetten, ein Milliardengeschäft, das mit dem Geld fußballbegeisterter Fans gefüttert wird. Auf der Veranstaltung war wie immer die Selbsthilfe vertreten, in der sich Betroffene zusammenschließen und gegenseitig darin unterstützen, einen Ausweg aus der Sucht zu finden. Klar, man könnte verzweifeln, denn in einem der letzten Vorträge erfuhr man, wie viele Milliarden „dreckiges Geld“ weltweit mittels Glücksspiel verschoben werden. Man erfuhr aber auch, dass sich die Geldströme gut kontrollieren ließen, wenn die Politik das denn wollte. Ein ehemaliger Berliner SPD-Abgeordneter hat das bewiesen, als es ihm durch seine langjährige Hartnäckigkeit gelang, die Zahl der Wetthallen in seinem Wahlbezirk abzubauen. Mit Glücksspielwetten, legal oder illegal, verliert man am Ende immer. Aber Spielsucht ist eine Krankheit, bei der sich Betroffene und Angehörige Hilfe holen können. Auf unserer vorletzten Seite sind einschlägige Adressen aufgeführt. Da geht was, wenn der erste Schritt gemacht ist! Das sagt die Selbsthilfe, und die wissen es am besten. Im Namen aller BISSler wünsche ich Ihnen ein gutes neues Jahr!


Herzlichst

Karin Lohr, Geschäftsführerin

Mein Leben mit Multipler Sklerose

EIN TEXT AUS DER SCHREIBWERKSTATT

von Jasmin Nejmi

Seit 2005 habe ich Multiple Sklerose. Sie gilt als die Krankheit mit den tausend Gesichtern. Man kann nicht nur nicht voraussagen, wann der nächste Schub kommt. Man weiß auch nicht, welche Körperteile wie schlimm dadurch eingeschränkt sein werden oder welche Auswirkungen es auf das Gehirn oder Rückenmark hat. Von Taubheitsgefühlen über Temperaturveränderungen bis hin zu Sehstörungen und stechenden Schmerzen zwischen den Rippen kann alles Mögliche passieren. Ich könnte die ganzen Probleme, die MS verursachen kann, gar nicht aufzählen, so viele sind es. Ein Jahr lang fiel zum Beispiel mein kompletter Gleichgewichtssinn aus. Ich kam Treppenstufen nur sitzend herunter. Nach oben hielt ich mich am Geländer und der Wand fest, außerdem hielten mich die Stufen auf. Nach unten war die Panik zu groß, die Treppen runterzufallen. Ich konnte keine drei Schritte allein geradeaus gehen und war oft auf fremde Hilfe angewiesen. Einige sehr liebe Schwestern aus meiner Gemeinde haben mir in dieser Zeit geholfen. Sie stützten mich im Alltag und brachten mir Essen vorbei. Ich hätte nicht mal Gemüse schnipseln können in dieser Zeit. Es dauerte mehrere Monate, bis es mir besser ging. In der Reha lernte ich wieder die Dinge, die ich vorher schon konnte, und arbeitete gegen meine Angst an. Vor manchen
Situationen habe ich aber bis heute Angst: Zum Beispiel fahre ich mit Rolltreppen nur nach oben, nicht aber nach unten. Ich habe bis heute Panik davor, dass meine Beine einsacken und ich mich nicht festhalten kann, sollte ich stürzen. Wird der eigene Körper zum Feind, ist es mitunter schwierig, damit zurechtzukommen. Doch ich habe auch neue Wege der Fortbewegung für mich entdeckt. Von einer Stiftung bekam ich ein Fahrrad mit drei Rädern, mit dem ich bis heute unterwegs bin. Von meinem Dreirad erzähle ich aber mal wann anders in einer eigenen Geschichte.