Inhalt | Demokratie | Demokratie ist davon abhängig, dass sich möglichst viele Menschen dafür stark machen. Jetzt ist der Zeitpunkt dafür. | 6 Sportfreunde Stiller: Interview macht mobil | 12Glücksspielsucht: Wie kann man Jugendliche besser schützen? | 16 Papst Franziskus: Ein Leben für Arme, Obdachlose und Geflüchtete | 22 Migrant*innen im Alter: Wer kümmert sich um die Seniorenmigranten | 5 Wie ich wohne | 26 BISS-Verkäufer*innen erzählen, was sie bewegt | Rubriken | 3 Editorial | 28 Patenuhren | 29 Freunde und Gönner | 30 Mein Projekt, Impressum | 31 Adressen
Alte Menschen mit Migrationsgeschichte: Einwanderer, Geflüchtete oder die früheren „Gastarbeiter“ – Wie geht es ihnen, wenn sie alt werden und nicht mehr arbeiten können?
Die Gesellschaft wird immer älter. Alte Menschen brauchen besondere Pflege. Aber die vielen alten Menschen mit Migrationsgeschichte werden dabei oft vergessen. Dabei sind es in den letzten Jahrzehnten immer mehr geworden. Viele frühere „Gastarbeiter“ sind in Rente gegangen, viele auch vorzeitig, weil sie häufig eine körperlich harte Arbeit hatten. Die Freien Wohlfahrtsverbände hatten das schon vor 20 Jahren bemerkt und im Jahr 2002 einen Text veröffentlicht: „Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe“. Darin steht: Alte Menschen mit Migrationsgeschichte sollen genauso gut versorgt werden wie alle anderen. Denn in einer Gesellschaft mit vielen Kulturen soll die Hilfe im Alter für alle da sein. Dazu braucht man aber auch Pflegekräfte und andere Mitarbeitende, die die verschiedenen Sprachen und Kulturen kennen. Das war damals aber schwer umzusetzen, da es fast keine Altenpfleger und Pflegerinnen mit Migrationsgeschichte aus Ländern wie Italien, Griechenland oder der Türkei gab. Auch die Stadt München hat eine Studie in Auftrag gegeben, die im Jahr 2008 veröffentlicht wurde. Die Studie heißt: „Ein bisschen dort, ein bisschen hier“, denn Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich oft ein bisschen hier in Deutschland zuhause und ein bisschen dort in ihrer alten Heimat zuhause. Viele sagen: „Ich bin zu deutsch geworden.“ Man hat sich ein Leben in Deutschland aufgebaut – und fühlt sich trotzdem nirgendwo richtig zugehörig. Auch nicht mehr in der alten Heimat. Die Studie ist auch heute noch aktuell und gibt Empfehlungen für die interkulturelle Öffnung in der Altenhilfe.
Das heißt, dass die Angebote besser zu Menschen mit anderen Sprachen, Religionen und Lebensweisen passen müssen. Zum Beispiel braucht es bessere Informationen in verschiedenen Sprachen und eine Zusammenarbeit mit migrantischen Gemeinden wie Kulturvereinen oder Religionsgemeinden. Und es muss mehr Mitarbeitende mit Migrationsgeschichte geben.
Denn viele Menschen erreicht man nicht, weil sie die deutsche Sprache nicht gut verstehen, weil sie sich mit Ämtern und Behörden nicht auskennen oder weil sie arm oder krank sind. Viele haben auch Angst vor dem Altersheim, dorthin „abgeschoben“ zu werden. Oder sie schämen sich, weil sie denken, sie sind gescheitert. Weil ihnen die geplante Rückkehr in ihr Heimatland nicht gelungen ist. Aber Menschen mit Migrationsgeschichte haben mit ihrer Arbeit genauso zum gesellschaftlichen Reichtum in Deutschland beigetragen. Deshalb haben sie auch genauso Anspruch auf Altenhilfe.
Im Jahr 2022 haben Vertreter der Freien Wohlfahrtspflege gemeinsam mit dem Münchner Migrationsbeirat Empfehlungen für eine gute Altenhilfe noch einmal aufgeschrieben. Dabei zeigte sich: Die meisten Empfehlungen von vor 20 Jahren sind noch immer aktuell.
Aber es wurde auch aufgeschrieben, was sich schon verbessert hat: Zum Beispiel gibt es die Fachstelle Interkulturelle Altenhilfe im Sozialreferat.
Es gibt interkulturelle Altenarbeit auch bei Münchenstift, bei der Diakonie und bei anderen Einrichtungen. In den letzten 10 Jahren sind es mehr Angebote für alte Menschen mit Migrationsgeschichte geworden. Es gibt ein vielfältigeres Speisen-Angebot und Angebote für die vielen verschiedenen Religionen. Und inzwischen bekommen auch mehr als doppelt so viele Migranten und Migrantinnen eine vollstationäre Pflege. Es geht ja nicht nur um Unterstützung und Pflege, sondern auch um Teilhabe, Bildung, Kultur und Geselligkeit. Das heißt, es geht auch darum, dass man dazugehört und mit dabei ist. Das Sozialreferat schult die Mitarbeitenden und unterstützt Projekte wie „Brücken bauen“ von der Diakonie oder „SAVE“, wo alte Menschen regelmäßig besucht werden.
Seit 2018 gibt es auch Dolmetscher-Dienste für bestimmte Beratungen. Das ist noch nicht so bekannt (mehr Informationen am Ende vom Text). Anke Kayser vom Sozialreferat sagt: „Ich wünsche mir, dass die Menschen das Angebot noch viel stärker nutzen!“
Bei der Arbeiterwohlfahrt gibt es den psychologischen Dienst für Menschen mit Migrationsgeschichte. Die Beratungen dort sind in der jeweiligen Muttersprache. Anica Novakovic ist dort die Leiterin. Sie sagt:
„Viele alte Migranten und Migrantinnen sind einsam. Sie haben nicht so viele Kontakte wie früher in der Heimat.“
Und viele möchten ihren Kindern und Verwandten hier in Deutschland nicht zur Last fallen. Anfang der 2000er Jahre waren die früheren „Gastarbeiter“ noch die größte Gruppe unter den Migrant*innen, bald werden es die Geflüchteten sein. Sie sind teilweise jünger, aber viele sind krank und brauchen therapeutische Hilfe, weil sie die Kriege in ihren Heimatländern und schlimme Fluchterfahrungen erlebt haben.
Hier gibt es kostenlose Hilfe für ältere Menschen mit Migrationsgeschichte:
„Brücken bauen“: Informationen über Pflege und das Leben im Alter
Fachdienst für ältere Migrant*innen: Beratung und Unterstützung
„Seminar für mehrsprachige Helferinnen und Helfer“: Schulung und Vermittlung von Ehrenamtlichen an ältere Menschen mit Migrationsgeschichte► Beratungsstelle der Israelitischen Kultusgemeinde (Kontakt und Infos: bitte hier anklicken)
Beratung für ältere Gemeindemitglieder und Angehörige
Wer wohnt wie? In der Kolumne geben Menschen aus dem BISS-Netzwerk Einblicke in ihren Wohnalltag. Sie erzählen, wie sie früher gelebt haben, wie sie momentan wohnen und was sie sich für die Zukunft erhoffen.
Protokoll HANS ALBRECHT LUSZNAT
Foto MARTIN FENGEL
Der Bücherfreund
Ich liebe den Blick aus meinem Zimmer im sechsten Stock. Ich kann ein Stück vom Nymphenburger Park sehen und direkt vor mir erstreckt sich ein Neubaugebiet, das erst in den letzten zehn Jahren gewachsen ist und in dem gut 5.000 Menschen leben. Früher waren hier noch Felder und es gab wenige Häuser. Meinen Schreibtisch habe ich genau vor das Fenster gestellt. Es tut gut, wenn man in die Ferne schauen kann. Ich wohne im Fritz-Kistler-Haus, einem Senioren- und Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Pasing. Im ersten und im sechsten Stock ist der sogenannte Rüstigen-Bereich, das sind alles Mitbewohner, die mobil sind, sich noch selbst versorgen und nicht auf Hilfe angewiesen sind. Das Zimmer misst ungefähr 30 Quadratmeter und ist einem Krankenhauszimmer ähnlich. Rechts im Flur ist ein Badezimmer. Daran schließt der Wohnraum an, mit Bett, Tisch, einem Regal und einem Truhenschrank. Den habe ich mir beim Einzug unter den Möbeln im Keller ausgesucht. Wenn Mitbewohner sterben, dann werden brauchbare Möbelstücke, die übrig bleiben, im Keller gesammelt. Gott sei Dank habe ich all meine Bücher unterbringen können. Ich lese viel und habe über 300 Bücher, hauptsächlich Sachbücher aus verschiedenen Themenbereichen. München und Münchner Geschichte interessiert mich besonders, denn ich bin gebürtiger Münchner und 1948 nicht weit entfernt bei den Barmherzigen Brüdern in Nymphenburg auf die Welt gekommen. Mein Vater war Teilekonstrukteur, die Mutter Hausfrau und ich bin als Einzelkind in Obermenzing aufgewachsen. Mit der Berufsausbildung hat es nicht so richtig geklappt, vielleicht weil ich immer zu ungeduldig war. Zunächst habe ich eine Werkzeugmacherlehre begonnen und abgebrochen, dann eine Ausbildung als Bauzeichner, auch abgebrochen, und dann eine Lehre als Buchbinder. Das habe ich auch nicht zu Ende gebracht, dann aber siebeneinhalb Jahre in der Bayerischen Staatsbibliothek als Buchbindergehilfe gearbeitet, was rückblickend die schönste Zeit meines Lebens war. Später hat dann irgendwann ein sozialer Abstieg begonnen, ich habe in einem Männerwohnheim an der Gabelsbergerstraße gewohnt, es aber immer geschafft, nicht obdachlos zu werden. Ich hatte ein massives Alkoholproblem und da hat mir die Bahnhofsmission München sehr geholfen und einen Platz in der Herzogsägmühle in Peiting vermittelt, wo ich zwei Jahre lang in Therapie war. Jetzt bin ich in Grundsicherung und der Bezirk Oberbayern trägt die Kosten der Unterbringung. Meine Rente geht darin auf. Hier im Fritz-Kistler-Haus fühle ich mich wohl. Frühstück und Mittagessen gibt es im Speisesaal im Erdgeschoss. Wir sind da ungefähr 35 Personen, die im Rüstigen-Bereich wohnen. Hier bin ich wieder im städtischen Umfeld, in dem ich groß geworden bin. Vor Jahren habe ich mit Familienforschung begonnen und bin in verschiedene Archive gegangen. Inzwischen habe ich eine umfangreiche Familienchronik zusammengetragen. Das älteste Dokument ist von 1820, also gut 200 Jahre alt.
Eigentlich war ich mit der Schule fertig, hatte nach dem Ende der achten Klasse meinen Schulabschluss gemacht, wie es in Kirgisistan möglich ist. Anschließend bin ich jedoch mit meiner Familie als Spätaussiedler nach Deutschland ausgereist. Nach den ersten vier Tagen, die wir im Aufnahmelager Friedland waren, habe ich mit meinen Eltern und Geschwistern in der Stadt Norden in Ostfriesland gelebt. Obwohl ich die Schule schon beendet hatte, besuchte ich dort die letzte Klasse einer Hauptschule, um Deutsch zu lernen. Ich sprach zwar schon Deutsch, aber es war noch nicht so, wie die Leute hier im Land es taten. Vier andere Russlanddeutsche gab es noch in der Klasse, mit ihnen erhielt ich für ein paar Stunden in der Woche zusätzlichen Unterricht. Nach einem Jahr haben wir dann alle zusammen den Hauptschulabschluss gemacht. Kurz vor Ende des Schuljahres unternahm unsere Lehrerin mit uns allen eine Abschiedsfahrt auf dem Schiff.
Für mich war es ein ganz aufregendes und lustiges Erlebnis, da ich noch nie zuvor so was gemacht hatte. Wir sind durch Holland gefahren, haben an Bord gewohnt und selbst gekocht. Die Matrosen spielten Gitarre und unsere Lehrerin hat dazu gesungen. Jeden Abend hielten wir auf einer anderen Insel. Dann durften wir vom Schiff runter und alleine herumlaufen. Es war Sommer, schönes Wetter und die Tage waren lang. Wir sind auf den Inseln herumspaziert, haben alles angeschaut und sind essen gegangen. In unserer Klasse waren Russlanddeutsche und Deutsche zusammen und wir haben uns super verstanden. Zu zwei von meinen Schulkameraden habe ich noch Kontakt. Wenn ich zu meiner Mutter fahre, besuche ich die beiden auch. Eines Abends sind wir wie üblich auf einer Insel ausgestiegen und alle haben sich in verschiedene Richtungen verstreut. Meine Kumpels und ich haben uns die Sehenswürdigkeiten der Insel angeschaut und sind dann zu McDonald’s. Als wir wieder zurückkehren mussten, war das Schiff nicht da! Das war ein Schock! Wir haben alle ein bisschen Angst bekommen. Zum Glück verstanden die holländischen Spaziergänger das, was wir sie auf Deutsch gefragt hatten, und zeigten uns, wo noch eine weitere Anlegestelle war. Dort lag das Schiff dann auch. Alle waren auch noch nicht wieder zurückgekehrt. Nach und nach aber haben auch die anderen zurückgefunden. Schließlich war es eine Insel, da gab es nicht so viel, wo man sich verlaufen konnte. Unsere Lehrerin hat über unser Erlebnis gelacht. Am letzten Nachmittag unserer Klassenfahrt hat das Schiff auf der Rückfahrt eine kleine unbewohnte Insel angesteuert. Dort machten wir ein Lagerfeuer und aßen gemeinsam. Danach sind wir nach Groningen gefahren und mit dem Bus zurück. Diese Fahrt war wirklich schön gewesen, einfach unvergesslich.
In dieser Ausgabe machen wir etwas, was wir sonst nicht tun: Wir veröffentlichen ein Interview ein zweites Mal (siehe S. 16 bis 19). Aber nicht irgendein Interview, sondern das, das der im April verstorbene Papst Franziskus im Jahr 2015 der niederländischen Straßenzeitung Straatnieuws aus Utrecht gegeben hat. Ich erinnere mich gut, wie mir mein holländischer Kollege Frank im Juni 2015 auf dem internationalen Treffen der Straßenzeitungen in Seattle im Vertrauen diesen baldigen „scoop“ verriet, ein mit viel Vorlauf vorbereitetes, exklusives Gespräch mit seiner Heiligkeit im Vatikan. Zugegeben, zuerst war ich ein bisschen skeptisch, ob das wirklich zustande kommt, denn Frank war zwar ein gut gelaunter und sehr entspannter Mensch, schien aber nicht der Typ zu sein, der im Vatikan ein und aus geht. Am Ende aber hat es geklappt, die holländischen Kollegen, darunter ein Straßenzeitungsverkäufer, reisten nach Rom und Frank hat tolle Fotos gemacht. Eines davon zeigt Papst Franziskus aus vollem Herzen lachend, kraftvoll und bester Dinge. In dem Gespräch macht er sich für eine Kirche stark, die sich für die Armen engagiert, und sagt deutlich, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Dach über dem Kopf und auf die drei „Ts“ hat: trabajo (Arbeit), techo (Dach) und tierra (Land). Das Interview ist zeitlos, die Botschaft drängender denn je. Der Papst ermuntert ausdrücklich zum Handeln, ja sogar zum Kämpfen für eine bessere Welt. Diese Haltung verbindet doch Menschen und überwindet Grenzen, geografische und viele andere. Es braucht mehr von diesen Menschen, die die Welt zusammenhalten, und nicht solche, die auf Kosten anderer spalten und bei jeder Gelegenheit maximale Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Das sehen die Sportfreunde Stiller (siehe S. 6 bis 11), langjährige Wegbegleiter von BISS, genauso. Für sie zählt, dass jemand nicht einfach Faschisten und Antidemokraten mit Grausen zuschaut, sondern sich aktiv für eine demokratische Gesellschaft einsetzt. Vor zehn Jahren hat BISS die Rom-Reise von Frank finanziell unterstützt, das war für Straatnieuws eine große Hilfe. Ich hoffe sehr, dass der neue Papst Leo XIV, wie sein Vorgänger Franziskus, für die Rechte armer und sozial benachteiligter Menschen kämpft. Und vielleicht gibt er ja bald einer Straßenzeitung ein Interview, wir BISSler aus München sind jederzeit bereit.